Gastbeitrag: Das Archiv für Zeitgeschichte blickt erstmals zurück und schildert hautnah die Umstellung auf den COVID-19-Notbetrieb – ein Plädoyer für die Digitalisierung und den virtuellen Lesesaal.
Es ist später Nachmittag am Freitag, den 13. März 2020. Im Seminarsaal des Archivs für Zeitgeschichte der ETH Zürich (AfZ) findet eine ad hoc einberufene Krisensitzung der vor Ort präsenten Mitglieder des Teams statt. Tags zuvor ist der erste Fall einer Corona-Infektion an der ETH bekannt geworden. Und soeben hat der Bundesrat in einer Medienkonferenz die Schliessung der Schulen und weitere Massnahmen aufgrund der besonderen Lage verkündet. Das Team sitzt konzentriert, aber etwas verunsichert in gebührendem Abstand voneinander. Es sollte auf Monate hinaus die letzte Besprechung mit physischer Präsenz werden.
Das Traktandum ist gleichermassen simpel und vielschichtig: Wie setzen wir im Archiv den absehbaren, aber noch nicht im Einzelnen verkündeten Notbetrieb der ETH um? Wer arbeitet wie im Home-Office, wer vor Ort? Welche Konsequenzen ergeben sich für die laufenden Archivierungsarbeiten? Wie fangen wir die Folgen für unsere Kundschaft auf?
Die Sitzung dauert nur knapp eine Stunde. Und obwohl in den folgenden Tagen durch die nächsten Beschlüsse des Bundesrates und der ETH-Schulleitung zur nunmehr ausserordentlichen Lage die wichtigste getroffenen Annahme – die zumindest partielle Zugänglichkeit des Archivgebäudes für Mitarbeitende – wegbrechen sollte, werden bereits an diesem Freitag die folgenden operativen Wegmarken für die Bewältigung der Coronakrise gesetzt:
Archivierung
Sämtliche Arbeiten am Archivgut erfolgen ab 17. März im Home-Office. Einmal wöchentlich werden von der Archivleitung, die nebst Vertretern der ETH-Betriebsabteilung exklusiv Zugang zum Archivgebäude erhält, Bestände oder Teile davon an die Privatadressen der Mitarbeitenden geliefert bzw. wieder zurück transportiert. Vorhandene Privatrechner und abgegebene Laptops werden für den Heimbetrieb flott gemacht, so dass von ihnen sicher auf alle notwendigen Daten und Programme (Office-, Adobe-, Kommunikationsprogramme, das Archivinformationssystem CMI AIS (ehemals CMISTAR), Intranet u.v.m.) zugegriffen werden kann.
Interne Kommunikation
Der Austausch innerhalb des Archivteams erfolgt ebenfalls ab dem 17. März ausschliesslich virtuell per Videokonferenz (ZOOM und MS Teams), Mail und Telefon, wobei letzteres ins Home-Office umgeleitet wird. Seit 26. März trifft sich die Gesamtbelegschaft zudem vierzehntäglich online zur kurzen Lagebesprechung. Die Archivleitung digitalisiert und verteilt im Rahmen ihrer wöchentlichen Anwesenheit vor Ort Briefpost an die zuständigen Mitarbeitenden und nimmt physische Lieferungen von aussen entgegen. Damit bleibt der Kontakt zu Externen gewährleistet und finanzielle Verbindlichkeiten können fristgerecht erfüllt werden.
Bild: Das AfZ-Team an der ersten “Corona-Konferenz” vom 26. März 2020.
Benutzungsdienst
Im ETH-Notbetrieb wird bereits ab 17. März der physische Lesesaal unzugänglich, die Ausleihe von Unikaten ausgeschlossen. Die Zugriffsmöglichkeit auf analoges Archivgut ist Aussenstehenden damit praktisch entzogen. Eine Digitalisierung on demand beschränkt sich auf dringendste Fälle und erfolgt ebenfalls einmal wöchentlich. Die in laufenden reinen Digitalisierungsprojekten beschäftigten Hilfskräfte werden in neue «virtuelle» Projekte versetzt (OCR, Metadatierung von Filmen etc.), die mit kürzester Vorlaufzeit entwickelt werden.
Ausbau des virtuellen Lesesaals
Innerhalb einer Woche wird der Zugang im virtuellen Lesesaal ausgebaut, da über 29 Prozent des verzeichneten Archivguts des AfZ bereits in digitaler Form zugänglich ist. Die virtualisierten Lesesaalrechner erlauben seit 24. März maximal 10 Personen (mehr als im physischen Lesesaal zuvor) einen bequemen Zugang zum virtuellen Informationsraum mit einem erweiterten Angebot. Der Webclient von CMI AIS (ehemals CMISTAR) und der Archivalienviewer des AfZ wahren dabei die rechtlichen Schutzbedürfnisse: Archivgut, das noch unter Schutzfrist steht, wird erst nach entsprechend bewilligtem Login zugänglich. Auch ganze Gruppen (Seminare, Schulklassen) erhalten Zugang zu ihrem Studienmaterial. Dringende Arbeiten mit Abgabetermin können damit fortgesetzt und termingerecht abgeschlossen werden.
Öffentlichkeitsarbeit
Kundinnen und Kunden sowie Partnerunternehmen des AfZ werden mit Infomails und auf der Website über die neusten Entwicklungen, das erweiterte Online-Angebot, aber auch über verschobene oder abgesagte Veranstaltungen informiert. Um mit Benutzerinnen und Benutzern, Lehrpersonen, Medienschaffenden sowie der interessierten Öffentlichkeit in Kontakt zu bleiben und diese mit aktuellen Informationen aus dem Archiv zu versorgen, erarbeitet und veröffentlicht das AfZ im Vorfeld des 8. Mai ein ausführliches digitales Dossier zur Rezeption des Kriegsendes vor 75 Jahren.
Akzession
Archivsichtungen und Ablieferungen werden – abgesehen von postalischen Zusendungen und digitalen Einlieferungen – zurückgestellt, bis kurze Zeitfenster physischer Präsenz ab 8. Juni eine Entgegennahme wieder ermöglichen.
Dank einer flexibel einsatzbereiten Belegschaft, die zudem auf stabile technische Lösungen zurückgreifen kann, war und ist die Arbeit im Notbetrieb für das AfZ und seine Mitarbeitenden auch ein Lehrstück für den beschleunigten Wandel in Krisensituationen. Aktuell laufen nun die Vorbereitungen für die Wiedereröffnung des physischen Lesesaals und eines eingeschränkten Betriebs im Archivgebäude ab 8. Juni.
Bild: Das Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich freut sich ab 8. Juni 2020 wieder auf Besuch.
Bereits heute zeichnen sich diese ersten Einsichten für die Zukunft ab:
Vorteil Home-Office
Viele Arbeiten im Archiv können grundsätzlich auch im Home-Office erledigt werden. Dies gilt insbesondere für Zugang, Vermittlung und Öffentlichkeitsarbeit im virtuellen Raum. Selbst Tätigkeiten am physischen Archivgut (Erschliessung, Erhaltung, Digitalisierung) können – unter Ausbau der (Transport-) Logistik – als «Heimarbeit» organisiert werden. Zahlreiche Vor-, aber auch allfällige Nachteile des Zusammenrückens von Beruf und Privatleben werden in diesen Wochen auch im Archivwesen auf breitester Testgruppenbasis erlebt und für die Zukunft geprüft.
Digitalisierung und Archivgutzugang
Digitalisierung (proaktiv und on demand) und der virtuelle Lesesaal sind zentrale strategische Antworten auf Krisen wie die aktuelle. Die Trägerschaften von Archiven und Bibliotheken sind künftig mehr denn je gefordert, durch entsprechende Investitionen den digitalen Zugang voranzutreiben.
Zukunft von Veranstaltungen
Besonders schmerzlich traf das AfZ der Totalausfall von Veranstaltungen mit physischer Präsenz. Eine als Wanderausstellung konzipierte Ausstellung über 150 Jahre Schweizer Wirtschaftsverbände musste etwa bereits im April vollständig auf 2021 verschoben werden. Die Virtualisierung solcher Aktivitäten erfährt in den nächsten Jahren sicherlich ebenfalls einen Schub. Ob aber eine rein digitale Kulturgutvermittlung auch «new normal» werden wird? Die Konjunktur von Balkonkonzerten, intensiv erlebten ersten Gespräche ausserhalb von eigener Küche und Wohnzimmer bei einem gemeinsamen guten Glas – natürlich noch auf zwei Meter Distanz -, oder auch die Nackenstarre nach der letzten langen Videokonferenz lassen hoffentlich berechtigte Skepsis aufkommen. Solche Corona-Nebenwirkungen erinnern in erster Linie nämlich an die vielen Facetten und Vorzüge der persönlichen zwischenmenschlichen Begegnung!
Herzlichen Dank an unsere beiden Gastblogger Jonas Arnold (Leiter IT und Digitales Archiv) / Daniel Nerlich (Stv. Archivleiter) des Archivs für Zeitgeschichte.
Weitere Artikel zur Digitalisierung von Archiven und virtuellen Lesesälen:
Das Bundesarchiv digitalisiert seine Archivbestände seit November 2019 on demand. CMI hat den Online-Zugang dafür gebaut.
David Gubler, Leiter Betrieb der Captum AG und Geschäftsführer der CMI-Partnerfirma GBL Gubler AG hat die Digitalisierungsplattform fürs BAR bereitgestellt.
Sehen auch Sie die Vorteile der Digitalisierung? Sind Sie an innovativen Archivlösungen interessiert?
CMI bietet 30 Jahre Archiverfahrung. Carolin Rosentritt (carolin.rosentritt@cmiag.ch, +41 43 355 34 81) und Marco Zollinger (marco.zollinger@cmiag.ch, +41 43 355 33 93) beraten Sie gerne.
Welches Fazit ziehen Sie – im Bezug auf Ihre Arbeit – aus der Coronakrise? Danke für Ihren Kommentar.